Mailand:Verkehr

Wie wir alle wissen, liebt Stau Grossstädte. Er hält sich vornehmlich im Innenstadbereich und auf Haupverkehrsstrassen auf. An Wochenden oder in Ferienzeiten zieht es ihn ins Grüene, wo er ein paar herrlich Stunden auf Landstrassen und Autobahenn verbringt. In dicht besiedelten Gebieten zieht er sich ab und an von Stadt zu Standt, je nachdem ,wie eilig es die Leute auf der Strasse zu haben scheinen. Je eiliger, desto lieber. Natürlich liebt er Mailand und es scheint, dass Mailand ihn auch liebt. Zu seiner Huldigung hat man Ampeln gebaut, eine nach der anderen, damit keine langen freien Stecken entstehen, auf denen er sich nur mühevoll ausbreiten könnte. Wer frühmorgens oder nachmittags den Mut oder den Wahnsinn besitzt, ins Auto zu steigen, liefert sich ihm auf Gedeih und Verderb seiner Nerven und seines Zeitplanes aus. Wenn der Verkehr höchstens zähflüssig ist, macht Autofahren eigentlich Spass, vorausgesetzt, man hat eine Reaktionszeit von einer Millionstelsekunde und kann ausserdem mindestens 54 einzelne Bilder pro Sekunde wahrnehmen. Schade nur, dass Stubenfliegen nicht Autofahren können.
Eine natürliche Ordnung ersetzt die Verkehrsregeln, auf grösseren Strassen ähnelt der Verkehr einer breiten Ameisenstrasse: durch Zufall bilden sich Spuren - auf eine zweispurig geplante Strasse passen immer mindestens drei - an Bottlenecks wie Abbiegungen stauen sich die Spuren zu einer ungeordneten Masse auf. Man fährt nach Sicht, wo Platz ist. Auf manchen Strassen sind auf langen Stecken keine Abbiegungen eingeplant, aber das macht nichts, wo eine Strasse ist, biegt man einfach ein.
Weil es so wenige Regeln gibt, ist Autofahren immer ein kleines Abenteuer, aber es erfordert auch viel Konzentration. Konzentration, die es leider nur dem Beifahrer erlaubt, die reiche Gestik der anderen Fahrer zu bestaunen. Von der Mimik und den Lippenbewegungen, die man auch ohne Kenntnis der Gehörlosensprache versteht, ganz zu schweigen. Ich muss zugeben, dass ich die Bedeutung der meisten Schimpfworte hier nicht kenne, aber der optische Eindruck trügt selten und meistens sind männliche Geschlechtsorgane im Spiel.

Ich, autolos und Nichtstubenfliege, fröhne dem Strabawesen. Aber nicht nur Straba. Auch Bus und Metro. Mailand besitzt ein dichtes Netz öffentlicher Verkehrsmittel, in dem sich auch der Fremde nach drei- bis vierwöchiger Irrfahrt leicht zurechtfindet. Es gibt eine Übersichtskarte in der Grösse eines gigantischen Stadtplanes, die so schlecht gezeichnet ist, dass ich Ähnlichkeiten mit meinem deutschen Mailandplan erst nach eingehenden Studien feststellen konnte. Mit Hilfe der Grobskizze gewinnt man früher oder später einen ganz guten Überblick, allerDings nur zuhause, denn der Plan ist nach der spot-the-tourist-Methode gefaltet, man muss ihn fast komplett und daher besonders auffällig auffalten, um einen Blick darauf werfen zu können. Wenn man sich den Weg merken kann, kein Problem.
So steht man planlos (aus genannten sicherheitstechnischen Gründen) an der Haltestelle, sofern man das verranzte Schild als Symbol einer solchen identifiziert hat, in der Hand hoffentlich ein Ticket - natürlich gibt es keine Automaten und in der Bahn wird auch nichts verkauft, das Ticket-Monopol haben hier die Tabacchi-Läden und die Kioske - und es heisst nur noch warten. Warten kann lange dauern oder auch kurz, es handelt sich in jedem Fall um einen Zustand völliger Ungewissheit.
Die Existenz eines Fahrplanes (sofern nicht demoliert, nur für Feiertage gültig oder aus dem letzten Jahrtausend) sagt nur aus, dass eine Bahn fahren sollte, auch die Zeitabstände, in denen Bahnen zu erwarten sind, lassen sich entnehmen. Der Rest bleibt dem Zufall überlassen. Bahnen sind wahre Kinder des Augenblicks, die da sind, wenn sie da sind, ein bischen Abenteuer bleibt also auch beim Bahnfahren, vor allem wenn der Zeitplan eng ist. Aber eng sollte man nie planen, eine halbe Stunde für einen zehn Minuten Weg ist durchaus angebracht.
Bahnen scheinen ein intensives Sozialleben zu führen, oft sieht man Pärchen derselben Linie einträchtig hintereinander fahren. Aber auch fremde Linien fahren ungern allein. Wenn mehrere Linien von einer gemeinsamen Haltestelle aus fahren, dann im Abstand von höchstens einer Minute. Eine gleichmässige zeitliche Verteilung vertragen sie nicht. Dafür haben sie es ungern eng an grossen Haltestellen, weshalb die Haltestellen so aufgeteilt werden, dass man immer nur an einer Station gleichzeitig stehen kann, so dass von drei möglichen Bahnen am Ende nur noch eine nutzbar ist, nämlich die, an deren Station man gerade steht. Es sei denn, man kann eine der natürlich geordneten Ameisenstrassen zur Hauptverkehrszeit unbeschadet überqueren. Fliegend zum Beispiel.

Orange ist die Farbe der Nahverkehrsmittel, ein satterer und weniger künstlicher Ton als der unserer Müllfahrzeuge. Die Busse sind einfach kastenförmig und brummig, aber die Bahnen haben einen ganz besonderen Charme. Die klassische Raupenform offenbart schamlos jede Blechnaht und weist selbst den kleinsten Hauch moderner Bauweise entsetzt von sich. Aber das ist nur der Anfang: von innen sieht die Bahn noch viel antiker aus. Verstrebungen und Bänke sind aus dunklem lackiertem Holz, die Zwischenräume kontrastieren in geschmacklosem farblich unpassendem Holzimitat, jenem Überzug, der normalerweise auf Pressspan zur Anwendung kommt. Entlang der Seitenwände sind durchgehende Sitzbänke mit der Lehne zum Fenster angebracht, so dass nur geringste Mengen an Sitzplatz entstehen.
Diese Sitzordnung konfrontiert die Reisenden auf uns ungewohnte Weise miteinander: kein verschämtes Starren auf die Schuppen des Vordermannes, um dem Blickkontakt von links oder rechts zu entgehen, hier fällt der Blick früher oder später immer auf das Gesicht eines Gegenübers, es sei denn, man verbringt die Fahrt mit geschlossenenen Augen. Morgens, wenn die Bahn voll ist, bietet sich ein anderes Bild: die Hintern der Stehenden, auf Augenhöhe der Sitzenden getragen. Der mailänder Neugier kommt diese Sitzordnung prinzipiell entgegen, jeder neue Fahrgast wird unverhohlen einer intensiven Untersuchung hinsichtlich Frisur und Kleidung unterzogen. Nicht nur, um den persönlichen Vergleich zum eigenen Erscheinungsbild zu ziehen - man könnte schliesslich auch einen neuen Trend verpassen. Wer sich angestarrt fühlt, kann sich einer dunklen Sonnenbrille bedienen.
Korrektes Sonnenbrillentragen setzt hier lediglich einen gut lesbaren Markennahmen auf dem Gestell voraus, ansonsten ist die Brille als modisches Accessoir von Ort und Lichtverhältnissen unabhängig einsetzbar, auch wenn das nachts und im Fahrstuhl auf den unkultivierten Mitteleuropäer lächerlich wirken mag.
Um ungestört aus dem Fenster sehen zu können, bleibt man am besten stehen und schiebt eine der Glasscheiben herunter, wodurch man die Möglichkeit erhält, sich mit der Technik des Fensterhebers auseinanderzusetzen. Diese gewellten Metallschienen erlauben eine nichtstufenlose Einstellung der Fensterhöhe und können mit grosser Sicherheit auf kurz nach der Erfindung des Rades datiert werden. Aus dem Fenster lehnen darf man sich leider nicht - kleine Metallschildchen mit Benimmregeln weisen dem unwissenden Fahrgast den rechten Weg. "Nicht hinauslehen" steht auf dem Fensterrahmen, geschickt so angebracht, dass es bei Hinauslehnen nicht zu übersehen ist. Auf anderen Schildchen steht:"Rauchen verboten" und "Spucken verboten".
Nur ein rotblinkendes Leuchtschild aus Plastik stört das heimelige Nachkriegsflair (Es heisst doch das Flair, oder? Warum klingt das dann so falsch hier?), ist aber dennoch notwendig um den Halt an der nächsten Haltestelle anzukündigen, was ansonsten der Fahrer übernehmen müsste. Der muss sich aber natürlich voll und ganz auf den Verkehr konzentrieren. Im Gegensatz zu Deutschland sind die Fahrer hier sehr fahrgastfreundlich und bleiben für den herankeuchenden auch noch stehen, wenn die Bahn schon einige Meter zurückgelegt hat (man erinnere sich an die deutschen Fahrer, die manchmal die Türen schon vor dem Losfahren der Bahn nicht mehr aufmachen, wenn sie erst einmal zu sind). Wenn man einen kurzen Rock trägt, braucht man nicht einmal herankeuchen, um den Fahrer zum Anhalten zu bewegen, man sollte aber nach dem Einsteigen nicht den Fehler machen, vorne beim Fahrer stehenzubleiben, weil dieser leider alle fünf Sekunden optisch nachkontrollieren muss, ob der Rock noch richtig sitzt - das stört die Konzentration ungemein und kann zu Unfällen führen. Aber normalerweise sind sie harmlos, so wie jener kleine dicke Fahrer, der ein Pappschild (mit dem Hinweis, dass die Bahn nicht bis zur Endhaltestelle fahre) ins Vorderfenster montierend auf meinen fragenden Blick hin sagte:"Nehmen sie mich auch, wenn ich nur bis Piazza 27. Febbraio fahre?"

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