Mailand: Meine Straße

Meine Straße liegt ein bischen ausserhalb. Noch nicht ganz Durlach, aber mindestens Rintheim-Ost. Weit genug. Lang ist sie, ich wohne in der 102 und noch lange nicht am Ende. Das heisst, dass ich am ersten Tag, nachdem ich bei Bosch meinen Schlüssel abgezockt und mich wieder verdrückt hatte, noch 102 Häuser zurücklegen musste, als ich mit Sack&Pack am Straßeneingang stand. Leider war ich zu faul gewesen, mir ein Taxi zu rufen, von Bosch aus nach Norden rollernd - mein Koffer hat Rollen und selbst hier in Mailand wagt es kein Hundehaufen, sich ihm in den Weg zu stellen - war ich wie von selbst auf meine Straße gestoßen, nachdem ich die Karte höchsten 10-12 mal befragt hatte. So stand ich vor Haus Nummer 2 und überlegte, wie lang 100 Häuser wohl sind, während mein Rücken verkündete, dass mein gigantischer Rucksack meinem Rückgrat noch höchstens fünf Minuten gab. Nie war meine Straße so lang wie an diesem Tag.

Man könnte sie dreckig nennen, sie ist nicht dreckiger als alle anderen italienischen Straßen auch. Jeden Mittwochabend kommt ein Putzwagen, der mit einer triefenden Rundbürste die Bürgersteige säubert, aber das ändert nichts, Kippen, Papierfetzen und Hundehaufen kehren immer wieder. Den Häufchen weiche ich inzwischen aus, ohne sie wirklich wahrzunehmen, nur neulich in Karlsruhe, als ich mich wieder sicher fühlte, spürte ich plötzlich so ein glitschiges Gefühl beim Gehen.
Vor den Kellerfenstern zieht sich ein dünner Streifen schwefelgrünen Pulvers entlang, wahrscheinlich Rattengift, an dem aber auch andere Schädlinge, Hunde und Kinder ihre Freude haben werden. Wie überall in Mailand sind die Häuserwände mit dem grauen Schleier der Abgase überzogen und ich vermute, dass es mindestens seit den Siebzigern bei Todesstrafe verboten ist, die Farbe zu erneuern. Man bevorzugt hier Erdfarben, Gelbbraun, Rotbraun, Beige, sowie ein Braun, das in seiner Tönung mehr als eindeutig an Stuhl erinnert. Vor Experimenten wie einer Kachelung in dunklem Türkis schreckt man allerDings auch nicht zurück (Kacheln wären theoretisch wenigstens abwaschbar). Der Grauschleier nimmt den hübschen Fenstern und Marmorbalkons die Würde, erst nachts und bei genauerer Betrachtung merkt man, dass es auch schöne Häuser in der Viale Espinasse gibt. Als Einkaufs-, Durchfahrts- und WohnStraße ist sie tagsüber sehr belebt, gutgekleidete Damen mit riesigen Einkaufstüten, Geschäftsleute, Handwerker - warum sieht man nirgendwo, dass etwas repariert wurde? - und Rentner bevölkern die schmalen Bürgersteige.
Donnerstagmorgens, wenn die meisten Autos noch auf den Bürgersteigen stehen, weil am Abend zuvor der Putzwagen durch die Straße getrieft ist oder an Müllabfuhrtagen, an denen die Müllsacke morgens einfach vors Haus gestellt werden, wird die Straße nach Bedarf mitbevölkert.
Die meisten Häuser beherbergen kleine Geschäfte im Erdgeschoss, Läden aller Art, Cafes und Tabaccai. Letztere sind eine Kreuzung aus Tabak- und Zeitschriftenladen, Kiosk, Post und Fahrkartenschalter. Lebenswichtig. Der Mann im Laden weiss um seinen Wert und wenn er behauptet, dass es irgendetwas nicht gibt, ist es besser, einfach den nächsten Tabaccaio aufzusuchen anstatt zu diskutieren, denn das Gefühl von Macht scheint den Einnahmeverlust mehr als wett zu machen.
Cafes sind von übergeordneter Bedeutung, da man etlichemals am Tag schnell Kaffe trinken gehen muss, was natürlich keine langen Wege erlaubt. Das Trinken an sich hat angesichts des fingerhoch in den Täschen stehenden Espressos mehr symbolische Bedeutung und wird in Rekordzeit im Stehen erledigt, wichtiger ist der soziale Aspekt des "Trinkengehens". Ich kann mich nicht daran gewöhnen, einen Schluck zu starken Kaffees in wenigen Minuten herunterzustürzen, wenn ich zurückkomme, schliesse ich mich den ganzen Tag ein und trinke meine 1.5 Liter-Bodumkanne voller wässrigem Kaffee ganz alleine leer.
Der kleine italienische Tante-Emma-Laden fehlt, wohl verdrängt durch das massige Pfannkuch-Äquivalent, das sich unter zwei Häuser gequetscht hat. Dafür gibt es eine Bäckerei, vor der die Badische Backstub' zu Kreuze kriechen müsste. Dem Aussehen des Bäckers, einer bulligen Gestalt mit kunstvoll ausrasiertem Bart, nach zu schliessen, hat das Geld leider nicht für einen Tattoo und Piercing -Laden gereicht, auch der blonden Verkäuferin mag Lack besser stehen als die weisse Schürze. Solange der Bäcker Bäcker bleiben muss, versucht er sich eben an kunstvoll geformten Broten, die appetitlich das Schaufenster zieren. Vollkornbrot wie wir es kennen, gibt es hier leider noch nicht, die italienische Vollkornversion zeichnet sich durch hellbraune Tupfen unbekannter Herkunft im weissen Brotteig aus. Dafür gibt es leckeres Olivenbrot im Kranz und arabische Spinatfladen,die dank der aufgestaubten Mehlschicht auch frisch herrlich verschimmelt aussehen.
Alle paar Minuten rattert eine Straßenbahn vorbei. Rattern ist hierfür das einzig zutreffende Verb, denn diese etwas in die Jahre gekommene Angelegenheit scheint nur von einem geheimnisvollen Gleichgewicht zusammengehalten zu werden und fängt auf manchen Strecken bedrohlich an, hin und her zu schaukeln. Es gibt auch einen Bus, der sich durch ein lautes tiefes Brummen bemerkbar macht, wahrscheinlich die Art und Weise des Motors zu demonstrieren, wie gross und stark er ist. Oder wie falsch eingestellt.
Mein Haus zur rechten und eine Kirche zur linken (angenehm, man hat es zum Schänden nicht so weit) sind nach Norden hin die letzten "wohnlichen" Gebäude der Straße. Danach sieht man nur noch niedrige graue Bauten, Werkstätten, leerstehende eingefallene Ruinen.
Wenige hundert Meter nach Norden hat sich ein Bote aus der Heimat eingenistet - ein Penny-Markt. Atemberaubend heimisch die Schlichtheit der Warendarbietung (Kartons), des Sortiments (2 Marken pro Produktart reichen völlig) und der Ausstattung (Linoleum-leicht sauberzuhalten). Auch heimisch: die Schlange an der Kasse. Aber das nur nebenbei.

Vor meinem Haus stehend sieht man zunächst - nichts. Der Blick wird zurückgehalten in der Undurchdringlichkeit des dunkelsten Vorgartens Europas, 30 Quadratmeter, auf die der deutsche Wald gründlichst neidisch sein dürfte, so dicht stehen hier hohe Laubbäume. Die ersten Etagen werden aussschliesslich an Depressive vermietet, die Badezimmer hat man komplett entfernt. Ein hoher weisser Metallzaun hält die Schaulustigen ab. Zwischen den Klingelschildchen steht:" Die Gegensprechanlage funktioniert auch Nachts und Feiertagen". Wie gut, dass man hier das Selbstverständlichgewordene wieder schätzen lernt.
Meine Toilette kann man übrigens auch nachts benutzen. Auf meinen Klingelschild steht "Maximilian Moser", ich könnte den Namen gegen etwas mir zu viel Geld austauschen lassen. Aber er dürfte sich Euch allen so gut eingeprägt haben, dass Ihr Euch ganz bestimmt daran erinnern werdet, wenn Ihr mich besuchen kommt.
Wer durch die Eingangstüre tritt, trifft unweigerlich auf den Hausmeister. Egal wann, die Hausmeisterei ist 24h am Tag besetzt. Der Hausmeister, trauriges Opfer italienischen Sicherheitswesens, hat eine Wohnung im Erdgeschoss, sein natürlicher Lebensraum oder wahrscheinlich jenes eben gerade nicht, ist der Portiersraum neben der Eingangstür. Hinter einer Glasscheibe sind ein paar Quadratmeter für den klassischen Sitzportier freigehalten, dahinter, durch eine Glasscheibe derselben Grösse einsichtig, befindet sich ein geräumigeres Zimmer mit Küchennische. Hier verbringt der Hausmeister seine Tage.
Es ist sehr wohnlich eingerichtet, Wohnzimmerschrank, Sessel und - zentral- der Fernseher. Die zweite Glasscheibe besitzt ein Rollo von dem der Hausmeister abends auch Gebrauch macht - weiss der Himmel, wie er es tagsüber in dem Glaskasten aushält. Nein, weiss nicht der Himmel, ich weiss es auch. Der Hausmeister ist einer der nettesten Menschen überhaupt, er grüsst mich, wann immer er meiner angesichtig wird voller Begeisterung, reicht mir ungefragt meine Post und erkundigt sich nach meinem Befinden. Am Anfang war er sich wohl über meine Italienischkenntnisse im Unklaren, unvergessen die Szene, als er mir angesichts eines Flyers in meinem Briefkasten zu erklären versuchte, was ein Pizzaservice ist.
Aber man tut gut daran, einige Meter Abstand von ihm zu wahren: besonders am Morgen ist seine Fahne fast unerträglich. Man sieht ihm die Sucht an, sein Gesicht liegt aufgequollen in Falten, die Augen machen manchmal beim Sprechen Anstalten aus den Höhlen springen zu wollen. Wenn wir gegrüsst und gesprochen und genickt und wieder gegrüsst haben und ich durch den Vorgarten und auf die Straße gehe, bin ich oft so traurig und verzweifelt, weil ich nicht weiss, wie ich ihm helfen kann. Oder vielmehr, weil ich weiss, dass ich ihm nicht helfen kann. Hmm, ich glaube, ich mag hier nicht mehr weiterschreiben.

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