Mailand:Lolapaloosa

Heute liebe Kinder, will ich von einem Eindruck erzaehlen, der sehr einpraegsam, aber nicht im geringsten praegend war: Es ist Sonntagabend, mein erster Sonntagabend in Mailand. Max hat angerufen, ob ich Lust habe, mit in seine Lieblingsdico zu kommen. Er kennt mich wohl noch nicht gut genug. Ich ihn auch nicht. Die Gelegenheit scheint guenstig, ein paar Tanzschritte zu wagen,ich traeume von unterhaltsamem Kindergartentechno. Auch der geballte Anblick von Schlampen und Gigolos lockt mich, deutlicher kann sich der Weggehentzug der letzten Tage kaum bmerkbar machen. AllerDings fuehle ich mich, als waere ich gerade auf dem Weg in den Zoo.
Wir fahren nach Osten, in den Strassen um den Monumentalfriedhof, saeumen Damen der Nacht beide Strassenseiten. Dabei scheinen sie starken Abstossungskraeften zu unterliegen, die sie zu mindestens 20m Abstand voneinander zwingen, nur wenige ertragen sich auf auf einer Autobreite. Ich sehe schwarz, Lack und vor allem wenig, ist es nachts nicht noch sehr kalt draussen? Ihr Anblick macht mich zum Gaffer, sie sehen den vertrauten schwarzen Gestalten so aehnlich, aber hier auch nur in Gedanken Vertrautheit zu suchen, waere schon zynisch. Loollapalloosa heisst unser Ziel, oder es klingt zumindest so als wuerde es so heissen. Der Name spricht von heiterer Volltrunkenheit, keine stoerenden Konsonanten wie k oder t, die kontrollierte Artikulation verlangen. (Ich muss an dieser Stelle zugeben, das hier dank meiner Tippfaehigkeiten zuerst "Artkuation" stand, die Ualitaets-Riege laesst gruessen)
Das Loollapalloosa liegt ebenerdig und laesst seine Gaeste zunaechst nicht naeher als 5 Meter an sich heran. Wer vom Tuersteher nicht zurueckgewiesen wird und den Edel-Gartenzaum aus dickten GarDinenbaendeln und Chromstaendern ueberwinden will, muss erst ein Getraenk zum Einheitspreis von 10.000 Lit. bestellen. Ich entscheide mich fuer ein Becks und wir durchbrechen die Barriere aus Kellnerinnen und Tuerstehern. Die Frontseite besteht aus Glastueren, das L. ist weniger eine Disco als eine Bar und mit viel dunklem Holz im Casablanca-Stil eingerichtet. An der Decke rotieren langsam und wirkungslos einige Holzventilatoren. Hohe Tische mit Barhockern verschwinden in der Menge, das L. ist voll - laut Max noch fast leer. Jeder Quadratzentimeter bietet Platz zum Stehen, die Menge gewaehrt dem Schwankenden halt. Auf einem Tisch tanzen schon Maedchen, Max fraegt mich, ob ich nicht auch mithalten moechte. Auf den Theke ist auch noch Platz...
Es wimmelt nur so von Froehlichkeiten, das Lachen gluecklicher Menschen liegt in der Luft, mit Hitze und Feuchtigkeit im Kampf um jeden Kubikmillimeter. Wir lassen uns in einer Stehnische - dass es hier keine Sitznischen gibt, versteht sich von selbst - neben dem betanzten Tisch nieder, ich beginne mich ernsthaft zu fragen, was ich hier drin verloren habe. Musik: lala. Das kann es also schon mal nicht sein.
Max holt unsere Becks und ich stelle angesichts des 0.3-l- Flaeschchens fest, dass es sich, falls es nicht durch Spekulationen auf dem Weltmarkt zu Malzverknappung kommt, wohl um das teuerste Bier meines Lebens handeln wird. Prost!
Von der Bar erklingt ein Haemmern, als waere eine Horde pfluemliklopfender Apres-Ski-Gorillas am Werk. Kein Pfluemli in Sicht, es sind nur die Barkeeper, die die Stimmung anheizen, indem sie mit Glaesern wie wild auf die Bar trommeln. Max erklaert mir, dass die Barkeeper vor allem dazu dienen, das Publikum bei Laune zu halten. So muessen sie zum Beispiel die Haengelampen ueber der Bar immer wieder in Rotation zu versetzen - flackerndes Licht regt die birnende Wirkung des Alkohols ungemein an, wie wir alle wissen - und dem Publikum nunterbrochen eine moeglichst laecherliche Show zu bieten. Ich wuerde zu gern wissen, ob man die Leute bei Club Med ausbilden laesst. Die Barkeeper kommen ihrer Pflicht nach, indem sie Muellsaecke aufblasen und sie vor ihre empflindlichste Stelle haltend aufeinander einboxen, wobei Myriaden von guter Laune freigesetzt werden. Fest steht: wer keine Lust auf aufgesetzte Froehlichkeiten hat, wer sich nicht passiv unterhalten lassen will und wer sich weigert, sich die gute Laune wie eine zweite Haut ueberzustuelpen, hat hier drin nichts verloren. Wusste ich doch, dass ich ohne Max hier niemals reingekommen waere!
Hinter uns ist inzwischen ein kritischer Zustand eingetreten, ein drittes Maedchen hat sich zu den zwei Tanzenden auf dem Tisch gesellt, die Sicht von unten reicht aber nur fuer zwei. Das um die Show bestohlene Opfer duerfte sich existenziell bedroht fuehlen, so dass ich es fuer sinvoll halte, Max darauf hinzuweisen, dass er in der potentiellen Flugbahn des weiblichen Eindringlings steht. Bevor es zur Kollision kommt, raeumt sie freiwillig das Feld. Unser Standort scheint wieder sicher, versinke in Betrachtung der Menge. Die physische Praesenz fuehrt hier ein strenges Regiment. Unter den vielen huebschen Gesichtern ist keines wirklich beeindruckend, gepflegt, geschminkt, muehevoll trainiert und gleichgekleidet sind die meisten Maedchen nur ansehnlich hergerichteter zurechtgerueckter Durchschnitt. Man wuerdigt die Muehe. Es scheint nur eindeutige Regeln fuer Make-Up und Kleidung zu geben, die man brav befolgt. Weiss denn keine, dass Schoenheit sich aus der Aussergewoehnlichkeit ergibt? Vor allem, wenn man den Geist draussen gelassen hat. (Der hatte naemlich kein bauchfreies Top an).
An manchen Stellen wogt die Menge im Tanz, erstaunlicherweise breiten sich trotz des Gedraenges keine Wellen aus, die Musik traegt Elvis Hueftschlag in jedes Herz. Zwei Taenzern vor uns ist entweder das Hirn huefthoch tiefergelegt oder der heimische Spiegel hatte ein hartes Los in den letzten Wochen.
Laut Max gehoert es zum Konzept dieser Bar, dass jeden Abend zwei Stunden lang dieselben Stuecke in derselben Reihenfolge gespielt werden. Wahrlich ein elitaeres Konzept, nur die hartgesottene Spass-Front, der Max auch anzugehoeren scheint, kann das auf Dauer ertragen. Die natuerlichste Frage der Welt, wann die zwei Stunden vorbei seien, beantwortet Max mit: "Halbe Stunde oder so..". Er muss es ja wissen.
Der 60ger Labamba-Sound bleibt nicht ohne Folterwirkung auf mich, der Zoobesuch macht keinen Spass mehr, ich will nach Hause. Aber wir sind ja schliesslich gerade erst gekommen. Immerhin bleibt bei den allabendlichen Uebungsmoeglichkeiten der gefaehrdete Spiegel unbelaestigt.
"Schau mal, sagt Max, "die zwei da streiten, seit wir gekommen sind" und zeigt auf ein Paerchen, das tief in eine Diskussion versunken neben den Hueftwaklern steht. Beider Haende sind dauerhaft auf Herzhoehe positioniert und zucken im Takt des Wortwechsels. Sie klagt an, er verteidigt sich. Natuerlich verstehe ich nichts, aber es muss sich nicht zwingen um existentielle Fragen handeln. Vielleicht hat er auch nur das falsche Hemd an. Als die Haende auf Kinnhoehe steigen, ohne dass eine Veraenderung abzusehen ist, verliere ich das Interesse.
Ausserdem geraet die Bar ploetzlich aus dem Takt - ein falsches Lied wird angespielt. Bevor Unruhe ausbricht, wird der Fehler korrigiert. Max nickt zufrieden - die Welt hat ihre Ordnung wieder. Im allabendlich wiederholte Liederkanon ist der Zeitpunkt der Tequila-Hymne - sollte man kennen, kenne ich nicht - gekommen, ein Lied, das abgesehen davon, dass es die intellektuellen Ansprueche des Publikums aufs vollste befriedigt, auch alle Maedchen zu kostenlosem Tequilagenuss an der Bar auffordert. Es steht mir frei, mich nach vorne durchzuquetschen und mir Tequila in den geoeffneten Mund giessen zu lassen - trotz Max hartnaeckiger Ueberredungsversuche verzichte ich auf die Teilnahme an der rituellen Abfuellung.
AllerDings muss ich zugeben, dass das Konzept angesichts des Publikums nahezu perfekt erscheint, wer passive Unterhaltung schaetzt und gerne sabbernd mit dem Spiegel in der Hand vor dem Fernseher sitzt, wird sich auch hier wohlfuehlen. Bin ich aber heute wieder herablassend, nein, jeder wie er will, aber das hier ist nichts fuer mich. Ich bin eben immer noch der Meinung, dass es ein Zeichen von Intelligenz ist, aktive Unterhaltung der passiven auf Dauer vorzuziehen. Ich habe Glueck, Max ist heute auch nicht so fit, der Zoobesuch wird vorzeitig abgebrochen. Vor aufstehfreien Tagen haelt er es nicht selten bis um sechs Uhr morgens aus.
Bevor wir fahren, zeigt er mir noch eines der wichtigsten Elemente des mailaender Nachtlebens: einen Panini-Wagen direkt um die Ecke, angeblich der beste Mailands. Panini sind belegte Broetchen, Panini-Waegen fahrbare Schnellimbisse, die erst bei Einbruch der Dunkelheit auftauchen und sich allabendlich an derselben Stelle festsetzen, wo sie hungriggetanzten Nachtschwaermern eine Staerkung anbieten. Gut zu wissen und mal was anderes als Doener.
So und an dieser Stelle war ich einfach nur froh, wieder nach Hause zu kommen, obwohl der Abend das Attribut interessant durchaus verdient hat. Und fuer einen schwungvollen Schlusssatz bin ich jetzt zu muede.

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