Mailand:Bosch

Bosch. Sozusagen das Wichtigste in diesen vier Monaten oder zumindest der bestimmende Faktor. Aber wie so oft muss man warten bis der Schock vorüber ist, bevor man über etwas sprechen kann. Eigentlich wäre alles gar nicht so schlimm, wenn ich nicht in der Marketing-Abteilung sässe, und eigentlich wäre es auch nicht so schlimm, dass mich das Thema nicht interessiert und mein Tutor nie Zeit für mich hat und eigentlich wäre es auch nicht so schlimm, dass Max hier ist - aber alles zusammen ist einfach zuviel. 
Aber fangen wir ganz einfach an. Meine Abteilung verkauft keine hippen Küchengeräte in Mintgrün und Senfgelb, die entfernt an fliegende Untertassen erinnern, meine Abteilung verkauft Automationstechnik. Spannend. Oder auch spanend, zumindest wenn es sich um bestimmte Werkzeugmaschinen handelt. (Selbstgeiselung für diesen Witz!) 
Hydraulik und Pneumatik heissen die Oberzauberworte, obwohl die Automationstechnik natürlich noch mehr zu bieten hat. Und meine Abteilung hat, so wie ganz Bosch, nur ein einziges Ziel: mehr Umsatz bei geringeren Kosten. Konkretere Information ist nur schwer zu bekommen, aber solange alle beschäftigt sind, ist das schließlich von untergeordneter Bedeutung. AllerDings hat Bosch jetzt erste Maßnahmen zur Bekanntmachung seiner strategischen Ziele ergriffen: große Schautafeln sollen den Mitarbeiter über das Wohin aufklären und bei der Verrichtung des Tagesgeschäfts lenken. Ergo war diese Woche bei uns großes Schautafelbasteln, wobei die übliche zwei-linke-Hände-Polemik zwischen Ingenieuren und BWLern nicht ausblieb. Trotz Polemik (und obwohl meine beiden linken Hände keine dieser Tafeln auch nur berührt haben) sind die meisten der Tafeln falsch montiert und daher nicht drehbar, dafür lassen sich die liegengebliebenen Schrauben gewinnbringend verkaufen. 
Sobald Stifte zur Verfügung stehen und niemand hinschaut, werde ich mich aufs Übelste an einer der Tafeln vergehen, unter einer Sonnne und einer Blumenwiese kommt die Abteilung nicht davon. Aber vielleicht steigert das ja auch die Mitarbeitermotivation. Ich frage mich allerDings schon die ganze Zeit, wo sie eigentlich sind, diese Mitarbeiter, diese leicht manipulierbaren Wesen, denen der Abteilungsleiter allmorgendlich die Köpfe selbst anschrauben muss, damit sie richtig funktionieren. Wenn die Köpfe erst zurechtgeschraubt sind, dürften auch die Schautafeln ihre Wirkung nicht verfehlen, vorausgesetzt, man findet auch nur einen einzigen dieser Mitarbeiter in der Firma. Mir ist noch keiner begegnet. Zumindest niemand, der einen Gewindeansatz am Hals hat. 

Neben dem Zurechtschrauben betätigt sich unser Abteilungsleiter hauptberuflich als Singularität, ein schwarzes Loch erzeugend, in dem Kollegen stundenlang und ohne ersichtlichen Grund verschwinden können. Richter heisst er, Ulrich Richter, Namensopfer unbarmherzig klangtauber Eltern. Unter Weglassung der redundanten Silbe lässt sich der Name zu Ulrichter verkürzen, das kommt zumindest den Italienern aussprachetechnisch entgegen, da das Aussprechen eines deutschen "ch" hier täglich mindestens ein Dutzend Opfer fordert. Um mich nicht eines Mordes schuldig zu machen, habe ich auch aufgegeben zu erklären, dass dieser deutsche Rennfahrer nicht Schuhmaaahckerrr heisst und schon überhaupt kein Macker ist, ist ja auch egal. Das Überschreiten von Herrn Rischtährs oder Rieckters oder wie auch immer Türschwelle ist auf jeden Fall gefährlich, für das Tagesgeschäft und für den Verstand und ob es fruchtbar sein kann, bleibt dahingestellt.
Herr Richter ist erst seit dem Frühjahr hier und sein Italienisch steckt noch in den Kinderschuhen. Da er schon über 50 ist, stellt sich die Frage, ob er es jemals lernen wird, vor allem, da er sich bisher standhaft geweigert hat, es ausserhalb seines Privatunterrichts zu sprechen. Aber diese Zeiten sind vorbei - ab ersten Juli, hat er verkündet, spricht er nur noch italienisch. Ein echter deutscher Planer. Laut einer Dame aus der Buchhaltung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einer schlankeren Version von Homer Simpson, was alles in allem nicht zu leugnen ist, ich persönlich fühle mich hin und wieder an eine Schildkröte erinnert, eine, die die ihre Fähigkeit, zweihundert Jahre alt zu werden, aufs vollste in Anspruch genommen hat. 
Eigentlich ist er ein netter Mensch und ich glaube sicher, dass er versucht, ein guter Abteilungsleiter zu sein, die Bosch-Ziele zu erreichen und die Mitarbeiter zu motivieren - dass es ihm gelingen wird, halte ich dagegen für unmöglich. Ihm fehlt jeglicher Draht nach unten und seine Präsenz erstickt jedes Mitarbeitergespräch im Keim, so dass er ein sehr eigenes Bild von der Bosch-Realität erhält. "E un casinista!", der bringt alles durcheinander, stöhnt Ivana, die weltbeste Chefsekretärin und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, wenn Herr Richter Eigeninitiative ergriffen und Hand an den von ihr sorgsam ausgetüftelten Terminplan gelegt hat. Leider macht er das nicht nur mit seinem eigenen, sondern auch mit den Terminplänen der anderen, aber als Abteilungsleiter hat er die Sphäre der kollegialen Ehrlichkeit schon verlassen und wird über diese Tatsachen niemals aufgeklärt. 
Ich sehe ihn selten - zwei bis dreimal pro Woche dreht er eine Runde durchs Grossraumbüro, schüttelt allen die Hand, stellt ein paar nicht wirklich interessierte Fragen und verschwindet wieder. Meistens bleiben danach einige Arbeitsplätze für Stunden unbesetzt.

 Wir sind zu neunt im Grossraumbüro: sechs italienische Angestellte und drei internationale Praktikanten: Kate, Max und ich. Die Italiener haben ein schier unglaubliches Stimmpotential, sie telefonieren, als wäre das Telefon gerade erst erfunden worden und als hätten sie sich bisher schreiend von Stadt zu Stadt verständigen müssen. 
Man gewöhnt sich allerDings sehr schnell daran, ausserdem machen die sorgsam eingestreuten Schimpfworte jedes noch so trockene Verkaufsgespräch hörenswert. Zu beachten ist der feine Unterschied zwischen dem Gebrauch von Schimpfworten und Gotteslästerei, wobei ersteres als des Geistes täglich Brot und letzteres als pfui/bäh und wirklich unfein angesehen wird. Der Deutsche muss sich erst daran gewöhnen, dass das Zitieren anatomischer Besonderheiten des männlichen Geschlechtsorgans einen festen Platz im Geschäftsleben einnimmt, aber nicht nur das, auch daran, dass er an diesem schönen Brauch nicht teilhaben kann, weil die Worte aus seinem Munde einfach nicht natürlich klingen. Ich kann auf italienisch nicht mal "Scheisse" sagen, ohne lächerlich zu wirken. Dabei gibt es so vielfältige Möglichkeiten...
Langsam kommt mir der Verdacht,dass ich nicht mehr in der Lage sein werde, zu arbeiten, wenn nicht mindestens fünf Leute gleichtzeitig reden. 

Meine Bosch-Tage sind fest strukturiert, einer Fülle sozialer Rituale sei Dank. Morgens, kurz nach halb neun, wenn ich in recht wachem Zustand angekommen bin, ruiniert mir mein Rechner mit schöner Regelmässigkeit die Arbeitsfähigkeit. Bis er nach nur ganzen fünf Minuten hochgefahren ist - niedlich, wie er jeden Morgen nachzählt, ob alle Megabyte noch da sind: eins...zwei....drei...- bin ich in einen gehirnwäschebereiten Zustand eingetreten und nur die intensive Auseinandersetzung mit meiner Mailbox sowie die sofortige Beantwortung meiner Mails kann mich noch retten. Punkt Neun biegt Max in unerschütterlich guter Laune und mit einem fröhlichen Gruss ins Zimmer ein, umrundet schwungvoll einige Tische und bringt seinen Laptop in einen betriebsbereiten Zustand. Dann ist es soweit: wir können kaffetrinken gehen. 
Die dreiköpfige Praktikantenschaft, Sekretärin und unseren Tutor einzusammeln ist nicht immer leicht, das tatenlose Herumstehen auf dem Gang bringt mich wieder in den Gehirnwäschezustand und ich kann nur hoffen, dass nach dem Kaffee noch Mails übrig sind. Der Anblick des Kaffeautomaten versetzt mich in tiefes Schweigen und ich habe wieder einmal vergessen, mich an der heute-zahl-ich-den-Kaffe-Schlacht zu beteiligen, so dass mir nichts bleibt, als das spendierte Heissgetränk im 100ml-Plastikbecher in bischen kreisen zu lassen. 
Gegen halb elf wiederholt sich das Ritual mit anderer Besetzung. Mit etwas Glück bin ich dann bereits in der Lage, mich in kurzen Sätzen zu artikulieren, zumindest falls ich Lust habe. Beides zusammen kommt eher selten vor und ich glaube inzwischen sicher, mit Recht zu befürchten, dass dieses Verhalten auf andere unsozial wirkt. 
Kurz vor eins beginnt wieder das Einsammeln, diesmal zum Mittagessen und lang ist die Schlange, wenn man sich dabei nicht beeilt.. Der Anblick der angesichts unserer Verspätung verdientermassen langen Schlange regt mich zur Entwicklung eines Warteschlangenmodells an, das im Gegensatz zu meinen Lagerprojekt von echtem Nutzen für die Belegschaft sein könnte und somit für die Mitarbeitermotivation und letztendlich für ganz Bosch. Ein Bottom-Up-Nutzen, sozusagen. Mitarbeiter, die nicht warten müssen, sind glücklich Mitarbeiter und mitarbeiten besser. Aber was nützt andererseits die beste Prognose, wenn sich doch niemand danach richtet? Wir wissen schliesslich auch, dass es jeden Mittag um ein Uhr sackvoll ist. 

Unsere Mensa verdient übrigens den Namen nicht, Mensa nicht und Kantine schon überhaupt nicht. Beides klingt nach abfütterungs- und weniger geschmacksorientiertem Frass, zumindest in Deutschland. Hier könnte man dagegen genausogut ins Restaurant gehen, nur dass die Auswahl grösser ist und das Essen weniger kostet. Da es gerade kurz nach zwölf Uhr ist, erspare ich mir zu meinem eigenen Wohl eine Aufzählung der Happa-Auswahl, sicher möchte mich keiner hier vom Stuhl fallen sehen. Nach dem Essen machen wir einen kleinen Abteilungsausflug in die Bar gegenüber, manchmal auch in eine andere ein paar Schritte weiter, dann meckert Max, dass er so weit nicht zu Fuss gehen möchte und ich verkneife mir einen bösartigen Kommentar bezüglich der Möglichkeit, ihn auch ganz bequem dorthin rollen zu können. 
In der Bar das rituelle Kaffetrinken: anstellen, Tässchen ranziehen, Zucker schöpfen, rühren, in einem Zug austrinken, abstellen, gehen. Verblüffend synchron der Ablauf, wenn mehrere Italienerinnen nebeneinenander an der Bar stehen. Der Weg zurück ist die grösste Versuchung des Tages für mich, ich will nicht zurück an meinen Schreibtisch, ich will draussen bleiben, aber der gezähmte Rebell findet sich Tag für Tag nach dem Mittagessen an seinem Schreibtisch wieder, mit soviel Unlust und sovielen Stunden bis zum Feierabend. Glück für mich, wenn es genug zu tun gibt, aber gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich wieder einmal stundenlang wegen einer Nichtigkeit auf meinen Tutor warten muss, und nicht weitermachen kann. So wie jetzt zum Beispiel. 
Wir Praktikanten haben inzwischen eine Art Fangsystem entwickelt, wer den Tutor erwischt und Fragen stellen darf, muss ihn anschliessend festhalten, damit auch die beiden anderen in den Genuss seiner Aufmerksamkeit kommen. Aber man muss schnell sein, schnell und wachsam, so dass man ihn direkt abfangen kann, wenn er sein Büro betritt, am besten noch bevor er sich gesetzt hat, denn dann könnte er schon zum Telefon gegriffen haben, was mindestens eine weitere halbe Stunde Warten bedeutet. 
"Arbeit" ausserhalb des eigenen Projekts, die man während der Wartezeiten erledigen könnte, bekommt man eigentlich nur zwischen halb fünf und sieben und dann zur Fertigstellung am selben Abend, daher ist es ratsam, sich nach vier Uhr farblich an den Schreibtischstuhl anzupassen und möglichst beschäftigt zu erscheinen. Die Möglichkeiten der menschlichen Mimikry sind vielfältiger als man denkt, mit etwas Anstrengung bin ich dank meiner hellen Hautfarbe von der grau-beigen Büröeinrichtung - PC-farben, möchte man fast sagen - kaum noch zu unterscheiden. 
Um dieselbe Zeit stellen auch meistens die Kleinweich-Produkte ihre Funktionstüchtigkeit ein. Wort bleibt unpraktisch wie immer, aber Zugang und Aus-der-Zelle sind die Pest, besonders wenn man Daten transferieren möchte. Wohin und was auch immer, Excel verliert sie und in Access kommt nur noch ein Überbleibsel jämmerlich verstümmelter Daten an. Ich komme mir vor, wie im Krieg, in jeder Access-Tabelle erstreckt sich nach dem Datentransfer ein Killing-field bis zum Horizont.
Zum Ausgleich erfindet Access gerne zwei oder drei Datensätze, die es sorgsam in einer neu erstellten Tabelle versteckt, wer sie sind und woher sie kommen, weiss niemand, vielleicht sind es illegal aus Excel eingewanderte Daten oder die Wiedergutmachung durch das neue Kleinweich-Update. Aber sich darüber zu beschweren, ist genauso sinnlos, wie sich zu beschweren, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Die Reaktion meines Tutors auf mein Seufzen, dass ich ein neues Tabellenkalkulationsprogramm und ein neues Database möchte, war jedenfalls:"Komm mal mit. Siehst Du den Kalender? Da gehst Du weg(Anfang August). Und da ist Weihnachten. Fällt Dir was auf?" 

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