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Es war kalt, als der alte Fjodor Aufstand und es dämmerte gerade. Fjodor brummelte nach seiner Waschschüssel, die nicht am gewohnten Platz stand und schob Wanja zur Seite, der üblicherweise freudig winselte, sobald er sich erhob, weil er schon Stunden zuvor aufgewacht und seitdem, den schlafenden Herrn liebevoll betrachtend, vom frischen Geruch der Bäume in der morgendlichen Kälte geträumt hatte. Die Vorfreude ließ Wanja Nacht für Nacht zu früh aus dem Schlaf schrecken. Nicht aber heute morgen, der Hund sah erschöpft zu Fjodor auf und rollte sich dann neben dem Bett zusammen, als könne er nun, da sein Herr aufgestanden sei, erst beruhigt einschlafen. Er schien nicht den geringsten Drang zu verspüren, den frischen Wintermorgen zu erkunden, obwohl nun oft erfrorene Mäuse oder Vögel für ihn abfielen, wenn er nur hartnäckig genug durch das Laub stöberte. Fjodor erlaubte ihm mitzunehmen, was er im Maul tragen konnte und es in einer Ecke der Hütte soweit auftauen zu lassen, bis es Wanjas Magen erträglich war. Aber der Hund rückte eher unter das Bett als Richtung Tür, winselte und vergrub den Kopf in den Pfoten, um sich vor allen Eindrücken zu bewahren, die er die Nacht über hatte ertragen müssen. Fjodor erinnert sich, wie grau der Himmel am Abend zuvor gewesen war. Angstvoll sah er zur Tür, dann zu Wanja und wünschte, sich wie der Hund unter dem Bett verkriechen zu können. Er wunderte sich, dass der Himmel und die Stille ihn nicht gewarnt hatten. Er setzte sich auf sein Bett und überlegte, ohne Aussicht auf einen Ausweg, nur um etwas Zeit verstreichen zu lassen. Es war inzwischen gänzlich hell geworden und Fjodor konnte deutlich hören, wie der Tag nach ihm rief, die Wiesen und das gefrorene Laub. Er war alt geworden im letzten Jahr und die Ruhe sein höchstes Gut. War er zwar auch zuvor schon reich an Jahren gewesen, so doch noch zäh und seinem Liebchen, dem Wald, leidenschaftlich zugetan gewesen. Nun aber war er ruhig geworden, die Wanderungen kürzer, die Abende neben dem Ofen länger. Gerne saß er einfach in oder wenn es das Wetter erlaubte, auch vor seiner Hütte und seufzte behaglich, in der Gewissheit, die Dinge einfach an sich vorbeiziehen zu lassen.
Ungern erinnerte er sich an das erste Mal als Wanja den Gang aus der Hütte verweigerte. Die Farbe des Himmels war am Abend zuvor von einem hell durchscheinenden Grau gewesen, wie die Fensterscheiben im Waschkeller des Herrenhauses von Koschinewitsch, als er einmal der Haushälterin Warwara geholfen hatte, heißes Wasser hinunterzutragen. Sie hatte schon seit Wochen wenig Zeit für Gründlichkeit gehabt, weil im Hause Koschinewitsch das dritte Kind geboren worden war, ein kränklicher Junge, der ständiger Pflege bedurfte und mit dem sowohl die Mutter, als auch die junge Lida, die Warwara sonst im Haushalt zu Seite stand, vollauf beschäftigt waren.
Am nächsten Morgen schleifte er den winselnden Wanja ohne Rücksicht aus der Hütte. Noch nie war der Wald so still gewesen, noch nie hatte Fjodor vergessen, bei dem ersten Schritt aus der Tür den Kopf zum Himmel zu wenden.
So fand ihn, bewegungslos und fast erfroren, neben einer erkalteten Feuerstelle, später, wobei Fjodor nicht hätte sagen können, wie viel später, Warenko, ein Knecht des Gutsherrn. Er kam üblicherweise einmal die Woche um Fjodor mit allem Lebensnotwendigen zu versorgen und nahm mit, was Fjodor über seinen Bedarf hinaus dem Wald entrungen hatte. Warenko war erst vor wenigen Tagen bei ihm gewesen, doch Fjodor war es das Wundern über solche Dinge nicht viel wert.
Der Gutsherr verfügte, dass die Leichen zu einem öffentlichen Friedhof vor der nahegelegenen Stadt gebracht und dort verscharrt würden. Die Toten erhielten eine Armenmesse in einer Grube zusammen mit anderen vierzig Leibern. Wie viele es waren, die man vor Fjodors Hütte gefunden hatte, ließ sich nicht sagen, mehrmals hatte man zu zählen versucht, jedes Mal kam eine andere Zahl heraus, schließlich beließ man es und bezahlte für die Beerdigung soviel, wie die Totengräber gezählt hatten, es kam ohnehin nicht teuer. Die gefundenen Toten machten das Thema an jeder Teetafel, in jedem Stall und in den Wirtshäusern, ein großes bunt erschreckendes Rätsel, das nur existierte, um allen Mündern, seien sie noch mit Milchzähnen gesegnet oder schon wieder zahnlos, die absurdesten Ideen zu entlocken. Den Tod hatte jeder schon einmal gesehen, in den meisten Fällen ein unliebsames Zusammentreffen, aber da in diesem Fall niemandes Verwandte oder Freunde durch seine Sichel zu Fall gekommen waren, kam das Gewohnte diesmal noch in nur aufregendem und nicht schmerzhaften Aufzug daher. Fjodor ging wie früher durch den Wald, der nicht lange still geblieben war, er selbst aber konnte keine Ruhe finden. Die Toten schienen nach wie vor vor seiner Hütte zu liegen, nach dem letzten Atemzug noch vor Schmerzen schreiend, würdelos verdreht, wie sie gefallen waren zu liegen gekommen. Zwei Tage, hatte sich herausgestellt, hatte er vor seiner Hütte gesessen und auf die Toten gestarrt, bis Warenko ihn fand. Sein Blick hatte sich minutenlang in Stoffe und Gelenke gefressen, um auch nur die geringste Bewegung einer Falte oder eines Muskels sofort zu bemerken, einen Toten nach dem anderen, einen Körper, ein Gewand nach dem anderen hatte er so erfolglos abgegrast, Stunde um Stunde. Der gegen Mittag aufkommende Wind hatte begonnen an Haaren und Kleidung zu zerren, leicht und spielerisch und die fehlende Gegenwehr der im Gras Liegenden hatte Fjodor noch viel mehr entsetzt. Er war nicht mehr in der Lage gewesen, sich zu rühren, starrte durch die Bewegung der Flammen auf die Toten bis ihm die Augen schmerzten, aber es schien ihm, als könne er nur so die Leblosigkeit des Körper mit der Unmittelbarkeit des Schmerzes auf ihren Gesichtern ertragen. Das Feuer war schließlich ausgegangen.
Es wurde Frühling, der Wald erwachte sichtbar an allen Stellen, schien sich bis zur Überbevölkerung mit Leben zu füllen. Auch Fjodor konnte nicht wiederstehen, fand ab und an ein Pfeifen auf seinen Lippen oder den Geschmack an seinem Tabakspfeifchen, für das er lange nichts übrig gehabt hatte und eines Tages zog er übermütig singend durch den Wald, scheuchte Wanja mit dem Stockwurf in alle Richtungen und wirbelte altes Winterlaub mit den Stiefeln auf. Es war wiederum an einem Herbstmorgen, als Fjodor angesichts des wimmernden Wanja ein vertrautes Entsetzen erfasste. Mehrere Stunden lang weigerte er sich, die Hütte zu verlassen, dann trat er schliesslich vor die Tür. Wieder die verdrehten Glieder, hingeworfene Körper, verzerrte Gesichter. Erst als er vor dem Hof des Gutsherren stand, merkte er, dass er sich bewegte hatte, gelaufen war, dass ihm die Beine schmerzten. Aus den Ställen drang Schnauben und das Schimpfen eines Knechtes, er hörte den jüngsten Spross der Koschinewitsch schreien, in der Küche klapperte Warwara mit dem Geschirr.
Das Entsetzen ereignete sich daraufhin ohne wirkliche Regelmässigkeit fast jährlich, manchmal im Herbst, manchmal im Frühjahr. Fjodor verspürte es stets von neuem wie beim ersten Mal und genauso zündete er auch wieder das Feuer an, bis Warenko kam, inzwischen mit einem Wagen, um die Toten sogleich zum Friedhof zu bringen. Drei oder vier Tage schienen die Toten noch vor der Hütte zu liegen, verströmten ihr Leid auf das Gras und die Bäume und Fjodor war es, als müssten sie in ihm selbst zerfallen, als müsste er mit ihnen zerfallen, damit das Entsetzen das Weite suche.
Auf anderer Ebene wurden mehr Erfolge erzielt. Die Gutsherren waren entsetzte Gesichter, zusätzliche Fahrten und Friedhofsgebühren leid und verlangten Einsicht in die Gesetzlage und Handhabung. Wie lange die Verhandlungen dauerten, war nicht nachzuvollziehen, allerDings schienen sie von Erfolg gekrönt, denn eines Tages tauchte Warenko auf und verkündete Fjodor, dass das Gesetz außer Kraft sei, dass man für seine Übertretung nicht mehr hingerichtet werden dürfe, dass man aber immer noch nicht wisse, was es gewesen sei. Fjodor rauchte und schwieg, in den Tagen, die das Entsetzen ihm Ruhe ließ, mochte er nichts davon wissen. Es gehörte inzwischen zu den Jahren wie die Jahreszeiten und Festlichkeiten, er erlitt es und lebte weiter. Wanja winselte immer noch leise. Fjodor strich ihm über den Kopf. „Komm, mein Alter, wir müssen wieder fahren.“, sagte er und ließ den Hund unter dem Bett liegen. Er kniff die Lippen zusammen, sein Rücken schmerzte vor Anspannung, dennoch stand er auf und ging zur Tür. Über der Wiese lagen dichte Nebelschwaden, der Morgen hatte sich schon etwas erwärmt, was erstaunlich war, so kurz vor Weihnachten. In den Nebel ragten Köpfe, Arme und Beine, ein wirrer Haufen starrer Glieder. Fjodor ging durch den Nebel über die Wiese, seine Schritte hallten und er dachte an das Gesetz, das im letzten Jahr seine Rechtsgültigkeit verloren und doch wieder Tote gefordert hatte. Wie immer, aus purer Verzweiflung, suchte er nach Leben, nach einem offenen Auge, nach einer warmen Hand. Als er dem ersten in die Augen sah, erstarrte er, sprang auf und lief um den Haufen, herum, sah jeden einzelnen an, strich über Lider und Mundwinkel wie um sich zu versichern: die Toten lächelten. Jeder einzelne von ihnen. Ein sanftes zufriedenes Lächeln lag auf ihren Gesichtern, als seien sie friedvoll zuhause im eigenen Bett gestorben. Aber das Entsetzen frass und bohrte in Fjodor wie beim ersten Mal, loderte hell auf und brannte ihm eiskalt im Herzen. Fjodor ging zur Hütte zurück, um Feuerholz zu holen.
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