I. Nevermore

Im Wohnzimmer ist die Hölle. Würgen und Zittern steigt auf, ich mache kehrt. Der Flur ist sicher, aber keine Bleibe, sie werden mich holen, mich fragen und das Wohnzimmer wird noch unbarmherziger über mir zusammenstürzen. Erstickend warmes Fluterlicht fällt von dort in den Flur, auf kommunikatives Gemütlichkeitsniveau gedimmt.
Der Flur. Alle Türen stehen hier offen, aber hier ist nicht Bleiben, nur Durchgehen. Außer der Wohnungstüre, versiegelt im dern Namen der Höflichkeit der so eben Eingetroffenen. Wenigstens eine halbe Stunde muss man bleiben. Mir graut vor Fragen aus besorgten Mündern, wieder der Schwache sein, der Hilfsbedürftige, mitleidige Blicke bei mühsam niedergehaltener Augenbraue.
Es gibt einen Ort für die zwanghaft Einsamen, für die Couchflüchter, die Zuflucht vor den Tischgesprächen mit Goldrand, wenn das Silberbesteck langsam zu liegen komt. Klein, eine Parzelle mit kalkweißen Wändern, knapp einen Meter breit. Ich verriegele die Tür der Toilette, schmiege mich von Wand zu Wand in die Türnische. Die Panik ist immer höchstens so gross wie ich. Luft langsam kommen lassen, einatmen, ausatmen, 21% beruhigender Sauerstoff.
"Was möchten sie?", fragt der Arzt, während er mir den Arm abbindet.
"Ein Vaterunser."
Er zieht den Inhalt einer Ampulle in eine Spritze auf, ich streife den Ärmel noch etwas weiter hoch.
"Lasset uns beten."
"Wie der Herr uns zu beten gelehrt hat."
Die Panik weicht Zeile um gespritzte Zeile. Ich befürchte immer, dass ich einige in der Mitte vergesse. Der Magen löst sich. Ich gehe auf Toilette.

Die aufmerksame Betrachtung funktionaler Gegenstände hilft ungemein. Das Erfassen von Form, Farbe und Material der Dinge, die unser Interesse zu gegebenem Zeitpunkt gerade nicht wecken, bedarf so großer Anstrenung, dass sonst kaum etwas Zugang findet. Es entsteht eine arbeitsame Ruhe. Ich versenke mich in den Toilettenpapierhalter, eine gebogene Fläche spiegelndes Metall, das Bad darin gekrümmt und unscharf abgebildet. Darum herum weiße Kacheln. An der Wand hängt ein Poster mit einer antiken Weltkarte, gedeckte Farben, dünnes Grün, graues lila, bräunliches Rosa, viele Grenzen, wenige Städte.

Zurück im Flur. Das Entsetzen hängt noch in den Türen, aber das Wohnzimmer erscheint jetzt begehbar, Steppe in der Mittagsglut, träge Löwen im Schatten eines dürren Baumes. Sie sprechen über Staus. Und Ausfahrten. Ich nehme Essen und Wein, Wein ist wichtig, weil er das Vaterunser verlängert, bis ich wieder von selbst stehen kann. Im tiefroten Schimmer liegt mein Lachen für die nächste Stunde. Sieht gut aus.

Die besten Plätze sind vergeben, ich setze mich auf einen Hocker, in ein Gespräch über die Autobahn nach Stuttgart. Von den Gesichtern blättert leeres Interesse in Streifen ab, wellt sich auf und reißt Schicht um Schicht. Kleine Hände formen es zu Kreuzen auf, geben ihm halt mit den Spucketropfen, die beim Reden fliegen. Das Wohnzimmer ist ein Gesprächsfriedhof. "Ausfahrt", "Wetter", "Weihnachtsgeld" steht auf ihnen geschrieben. Der Einstich schmerzt, ich nehme noch Wein. Dann endlich: ich habe einen Satz gesagt. Wozu...wüsste ich nicht mehr, aber immerhin. Er hängt noch in der Luft, ich sehe ihm nach, bestaune und bejubele ihn. Wo er hinging, könnten viele folgen. Wir könnten, große, grandiose Fortschritte machen, die Sätze und ich.

Auf der Couchlehne mir gegenüber sitzt der Arzt. Er lächelt süffisant, spritzt einige Tropfen aus seiner großen Spritze gegenüber, setzt sich dann in Pose und sagt lakonisch: "Sie wissen doch, wo das Entsetzen zu finden ist. Warum gehen Sie ihm nicht aus dem Weg? Sich ständig diese großen Kanülen in den Arm jagen zu lassen....."

Als ich im Hof stehe, um mich die Nacht mit offenen Armen, mein Fahrrad aufschließe, hat schon alles nachgelassen, nur die Beine sind noch etwas schwach. Aber der Arzt - er hat ja recht. Wein schmeckt mir ohne Vaterunser ohnehin viel besser.

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