Botulinum hell

Aufstehen, der Tag schmiert so vorüber, zu Bett gehen. Schlafen. Nicht da sein. Üblicher Tagesablauf. Mehr ein Fahren als ein Gehen, schneller sehen als man denken kann, eine wirbelbeinige Schicht toter verkrusteter Insekten auf der Windschutzscheibe. Beim Fahren von Zeit zu Zeit die Putzmitteldüse betätigen, Krusten aufweichen und eine scheibenwischerförmige Fläche frei schaben lassen. An den Seiten Insektenaufschichtungen. Wenn es länger trocken war und man bremst, fallen sie ab. Aber die Scheibe wird nicht wirklich sauber, so wie man auch nach dem Toben im Matsch nicht sauber wird, wenn alles trocknet und man Schlammkrusten von den Kleider klopfen kann. Am Ende steht doch immer die Waschmaschine. Schon mal gefragt, warum die anderthalb Stunden braucht und nicht einfach über die Klamotten klopft? Schließlich heißt es auch schleudern, nicht bürsten. Wir neigen dazu, das zu vergessen. Warum das wichtig, ist - später

Das gute an diesen Tagen ist, dass sie so schnell vorbeigehen. Aber es gibt Momente, da hat die Luft einen klaren Geschmack und die Dinge hinter den Fenstern Farben, als wäre der Welt ein Licht aufgegangen, als hätte der Herr seinen pädagogischen Malkasten rausgeholt, den er ab und an wohl nachgefüllt haben muss, damals, als die Schweinchen ihre Farben bekommen sollten, war ja angeblich nichts mehr übrig und sie mussten rosa bleiben. Was ein Beschiss für Kinder, also noch mal, diese rosa Dinger, das sind die domestizierten Hausschweine, die hat Gott nicht gemacht, sondern der Mensch, und er hat sie nicht gemacht, weil er nachher sagen wollte, dass er gesehen hatte, dass es gut war, sondern um sie mit verbotenen Antibiotika und verseuchtem Tiermehl zu mästen, debile Kindergeschichten über lustige Ringelschwänzchen zu erzählen, den Schweinen 17 neue Fettrippen an und abzuzüchten und sie auf unwürdigste Art und Weise zum Verzehr zu schlachten. Was Gott geschaffen hat, zumindest wenn man an der Stelle ansetzt, an der Gott zuletzt offiziell etwas geschaffen haben durfte, nämlich bei Darwin, nach dem Gott den Samen und das Regelsystem gab und sich dann alles andere von selbst, war es das Wildschwein. Welches, falls mit Frischlingen unterwegs, auch ohne Zögern auf ahnungslose Spaziergänger losgeht und deren Auge und Zahn nicht um selbige, sondern auch einfach so mal mitnimmt. Das darf man Kindern natürlich nicht erzählen, weil Gott sonst ziemlich diskreditiert dasteht.

Aber völlig unabhängig davon - Malkasten raus, Welt an. Ein Leuchten schleicht sich von hinten durch den Schädel, schiebt die eingesunkenen Augäpfel aus den Augenhöhlen, ein Bildertanz, so greifbar, so faserhaft, mit allen 17 Stringtheoriedimensionen. Die Mundhöhle verinnerlicht das Offenstehen, aus Luft wächst einem ein Bild auf der Zungenspitze. Man wünscht sich etwas, streckt die Hand von innen nach innen und würgt die Wahrnehmung so lange, bis die Realität eine Fünffingerform annimmt, wie Teig, den man durch die Hände quetscht, bis man sieht, was man sehen möchte und man glaubt. Man glaubt, dass wahr werden kann, was man sich wünscht und das ist der Moment, in dem der Tod ins Spiel kommt. Es ist geboren worden. Also muss auch gestorben werden. Ganz natürlich.
Der Wunsch wächst sich in den Tag hinein, ein kleiner Keim, der Wurzeln schlägt und Ableger bildet, und weil es so schön bunt ist, stülpt er sich aus in zarte Blüten, aus denen ein giftiger hallizu...hallozi... drogenähnlicher Schimmer die Luft verdickt, die Täuschung aus der Täuschung, die sich, anstatt sich zu ersticken, da sie sich in den Schwanz zu beißt, dabei vermehrt und rechtfertigt: es gibt einen Schwanz, sie spürt ihn ja auf der Zunge. Dann füllt sich die Welt damit, alles weicht dem Fraß, die Straßen, die Häuser, die schädlingsbehangenen blütenlosen Bäume der statistischen Realitäte, die angedorrten Überlebenden städtischer Grünzonen, alles, alles spricht die Sprache des Wunsches oder haucht seine Existenz aus. Der Konstruktivismus des Wunsches ist in der Lage, alles zu aggregieren. Was nicht geht, gibt es nicht. Kann es nicht, darf es nicht.
Wir kommen an den Punkt, an dem eine Hand eine sehr große Rolle spielt. Es darf eine linke oder eine rechte sein, eine große, kleine, raue oder zartgecremte Hand. Hauptsache, sie schlägt fest genug zu. Denn außerhalb der Welt, die ganz Wunsch geworden ist, haben die Dinge nicht aufgehört zu existieren, aber vielleicht, eine Veränderung, einen Mangel festgestellt, das Versiegen von Ideen, Sätzen und Bildern bedauert. Aber erfolglos. Der Wunsch hat sie weggewischt oder integriert, sie zur Randbedingung gemacht oder das Gesicht abgezogen. Ungehört, ungesehen, nur auf der Durchreise von einem Ohr zum andern in Betracht gezogen verhallt alles, wirbelt kurz ein loses Häufchen geistigen Kehricht auf und verliert seinen müden Schwung in dem matten Staub, der wenige Sekunden später den verbliebenen Welten vor die Füße gekehrt wird. Meist unbemerkt.
Es ist in diesem Moment die allervorderste Aufgabe einer freundschaftlich gesinnten Hand, mit aller Kraft die wahlweise linke oder rechte Gesichtshälfte des hochaggregierten Wunschträgers zu treffen. Dieser völlige Bruch mit der sozialüblichen Containment-Policy mag überraschen. Aber ein gezielter Schlag, vorbereitet in Wort und Gesinnung und rechtzeitig kommuniziert, kann das Aggregat zerschlagen, der gammastrahlende Blütenflug verdorrt zu Grau, ein Massenfluss schwappt zurück zur Existenz, der Schwanz speit sich selbst aus und in diesem schlammigen Fallout sitzt ein Mensch, über und über grau besudelt und hat vielleicht keinen Wunsch mehr, weil ihn die freundschaftliche Verzweiflung getroffen hat. Aber ein Mensch, immerhin. Kein Aggregat.
Wir kommen zurück zur Waschmaschine. Abspülen reicht nicht. Der Wunsch verseucht. Vielleicht ist er schon halb zerfallen innerlich der Mensch, unwiederbringlich verstümmelt und keine Begriffsorgantransplantation kann helfen. Man kann mit mehreren Schonprogrammen waschen, Farbwaschmittel, ohne Schleudern. Der schwere Staub wird ausgewaschen, das Material gestärkt. Der Blütenschimmer bleibt. Bei Tageslicht besehen zeigt er einen rosagräulichen Ton, wie der von zerfallendem Fleisch, botulinum hell. Manchmal nachts, leuchtet er sanftgold auf. Dann sofort wieder die Hand.
Nicht alles findet nach dem Trocknen den Weg zurück in den Kleiderschrank. Vieles wandert in den Altkleidersack, denn irgendjemand, der nicht viel zu erwarten hat, wird sich vielleicht darüber freuen. Und wenn nicht, dann eben Verarbeitung zu Industrieputzlappen. Auch nützlich.

Die Tage sind schön, wenn man nur langsam fährt und die Windschutzscheibe von Hand reinigt. Wenn man die Insekten zuerst nur abkratzt und erst dann mit scharfem Reiniger nachwischt, bleibt sogar etwas für den Biomüll.


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