Bernhard Spricht

Bevor er zum Mikro greift, im letzten Schritt, die Hand schon auf dem Weg, die Ferse tritt sich noch fest, es zuckt im Handgelenkt, holt er noch einmal Luft. Nicht über die Bauchmuskulatur, nicht für die Extraportion Sauerstoff. Sondern mit den Schultern, er hebt sie langsam spitz an und wenn die Lunge weit gezogen ist, lässt er sie wieder fallen. Noch bevor sie wieder unten angekommen sind, hat er das Mikro in der Hand und spricht. Und die Welt lässt die Puppen tanzen.

Es ist halb zwölf. Vier Rentner sind da. Drei junge Mütter, mit Kindern im Kinderwagen, junge Mütter, die müssen ja auch mal wieder raus, sagen sie. Genau wie die Rentner. Und gehen zum Stadtfest. Ein Elternpaar treibt seine Kinder vor die Bühne, zwei Väter sind auch alleine mit Kind da. Ob Väter wohl auch raus müssen, denkt Bernhard.
Er hat jetzt Kinder auf dem Programm. Um die Uhrzeit nur Kinder. Die Betrunkenen vom Abend zuvor liegen noch, in Betten, Straßengräben, Wägen um Bäume geschmiegt. Die Pärchen wollen erst nachmittags und abends wieder raus, die Singles nur abends. Touristen bleiben nicht stehen, strömen nur, sie saugen im Vorbeigehen auf. Touristen kommen nie vor die Bühne.
Bernhard spricht.
Auf seiner Bühne ein Geschwisterpärchen, große gierige Augen, Verwöhnaroma nach Eis im Atem, Reste im Mundwinkel. "Martina heißt Du. Und Du ? Eike. Das passt aber gut zusammen. Du bist der große Bruder Eike, nicht wahr? Passt du denn auch auf die Martina auf?". Nö! Martina stampft trotzig auf. Bernhard beeilt sich. Schickt die Kinder Bea suchen, die im Löwenkostüm zwischen den Tischen herumstreunt.

Bea ist Schauspielschülerin und zieht fast jedes Kostüm für Geld an. Die Stadt zahlt recht gut. Unter der Löwenmaske hat sie kurzes rotbraunes Haar. Das hat Bernhard nur einmal gesehen, als sie einander vorgestellt wurden, um die Spiele abzusprechen. Bernhard hat ihr gesagt, dass er es toll findet, dass sie das macht, in der Hitze mit dem Kostüm, er steht ja bequem auf der Bühne, aber sie verteilt Zettel und schüttelt Kinderhände den ganzen Tag in der Sonne und ob er sie danach noch auf etwas Kühles einladen darf.
Darf er nicht. Bea zieht das Kostüm über, steht herum, ist ein Löwe, verteilt Zettel, macht die Kinderspiele mit Bernhard zusammen und verdient EUR 12,50 die Stunde. Danach zieht sie das Kostüm aus, nimmt das Geld und geht heim. Ist wieder Bea und nicht Bernhards Kollegin, das ist höchstens der Löwe und Löwen sind im allgemeinen keine Kollegen, mit denen man etwas trinken geht. Also nein.
Ganz locker hat er zu sein versucht, aller mit ihr gesprochen hat, so locker wie auf der Bühne fast, aber sie hat ihn nur angesehen, leicht angewidert, Bühne und Leben kommen niemals zusammen, niemand ist locker, 12 Euro 50 Cent die Stunde. Und freie Softdrinks.

Bernhard muss auch viel trinken, weil er viel spricht. Wenn er auf der Bühne steht, vor 4 der 500 Leuten - die mal wieder raus mussten, Du, es ist Stadtfest, schau mal, die Bühne, da steht schon so einer, Mensch, den Job wollte ich nicht machen, rumschwätzen und dämlich grinsen den ganze Tag und er verkauft nicht mal was, wenn Marktschreier wäre, wenn er Fisch verkaufen würde oder Wurst, das wäre was, aber so, komm wir gehen mal hin. Der ist ja auch nur ein Mensch, der will ja auch nur leben, die arme Sau - wenn er da steht, dann muss die Begeisterung fließen, das müssen die Menschen spüren, das muss Funken schlagen und übergehen auf die Herzen, auch ohne Alkohol, da muss Bewegung sein - aber seine Stimme dabei sicher und fest, er lenkt sie ja, ihre Augen und Ohren, sie nehmen ihn auf - seine Stimme durch den Lauf des Mikros, sein Gesicht vom Bühnenaufbau eingerahmt. Bis sie weitergehen.

Die meisten sehen ihn skeptisch an, wenn sie näherkommen. Nase rümpfbereit, Mundwinkel fast schon verzogen. Für Fernsehen ist er zu groß, nicht umschaltbar, in der Hand halten sie außerdem eine Currywurst statt der Fernbedienung.

"Vielleicht kann der Papa der Martina und dem Eike von der Bühne helfen, damit sie die Bea suchen gehen können?"
Wenn Bernhard spricht, dann immer mit Begeisterung. Jedes Wort mit einer klaren Schwere der Begeisterung überzogen, die Sätze treten bestimmt aber heiter ins Mikro über. Von dort laufen sie über einen Verstärker zu den großen Bühnenboxen. Hier ausgetreten, treffen sie wieder mit Bernhards Lächeln und den gezielt gelenkten Bahnen seiner freien Hand zusammen - die Dreieinigkeit der Begeisterung. Die schwingt in der Luft, nur ein kleines bischen, schwingt und surrt und Bernhard spürt sich selbst dort mitschwingen, zuschwingen auf die Menschen vor der Bühne. Und abprallen. Die Begeisterung schlägt hart gegen die herabhängenden Wangen, die stechenden blinzelnden Lider, die Currywurstmünder. Prallt ab und gleitet herunter, zerläuft zu kleinen Lachen auf dem Boden. Umspielt noch kurz die Schuhe in verflüssigtem Aggregatzustand, erstarrt dann. Tritt sich fest.

Bernhard schluckt, reißt seine Augen vom Kopfsteinpflaster hoch. Und macht weiter. Schwitzt neue um neue Begeisterung aus. Und wenn sie bis zum Bühnenrand hoch festgetreten wird. Im Gegensatz zu Bea bekommt er einen Tagessatz.

Die Mutter lächelt eine mit wenig Mühe gespielte Begeisterung zu den Kindern hoch, während der Vater erst Martina, dann Eike von der Bühne hebt. Mütter können das, das machen die Hormone. Bernhard sieht, wie die Begeisterung der Mutter auf seine trifft, sich verstärkt, aufleuchtet, die beiden umwirbeln sich gleißend, um spielen sich in feuchter Luft wie Schneeflocken in einer wassergefüllten Glaskugel. Und fallen dann aus, gemeinsam vor der Bühne. Alle, viel mehr sind es plötzlich, alle vor der Bühne stehen in der gleißend ausgeflockten Begeisterung. Niemand wagt es, sich zu bewegen. Aber sie sehen Bernhard an. Und lächeln.

Bernhard atmet sich lang und tief frei, er spürt seinen Hals pulsieren. Die Kinder sind losgelaufen. Einige Rentner haben sich umgedreht, um ihnen nach zu sehen, zwei weißhaarige Damen hantieren in ihren Taschen und fördern Medikamententäschchen zutage. Eines der Kleinkinder quengelt, die Mutter schiebt den Kinderwagen weiter. Bea hat sich hinter einen der Bierstände gestellt. Minimales Verstecken. Die Kinder sollen nur laufen, sie finden, sie zur Bühne bringen. Dann bekommen sie jeder einen Malblock mit zwei Buntstiften, von der Sparkasse spendiert. Bernhard hat sich das Spiel nicht ausgedacht.
Die Kinder laufen zwischen den leeren Bierbänken umher, schauen lustlos unter den einen oder anderen Tisch.
Noch zwanzig Minuten. Dann die Blaskapelle, der Chor des Altenheims. Jeweils von Bernhard angesagt. Und dann ab 15 Uhr, noch mal Spiele. Aber 15 Uhr existiert jetzt noch nicht.
Bea hat hintern dem Bierstand hervorgelugt und gebrummt, damit die Kinder sie sehen. Ist dann wieder zurückgetreten. Bernhard sieht sie nicht. Aber es ist noch schwüler plötzlich. Die Kinder trippeln auf den Bierstand zu, ein scharfer Geruch nach Ammoniak strömt herüber, sie erreichen den Bierstand, Bernhards Kopf ruckt vor, er will schreien, es brennt so scharf in seinen Lungen, das Mikro trägt ein tiefes Keuchen zu den Boxen. Bea trägt kein Kostüm mehr, ist verwachsen mit dem Plüsch zu ockererdigem Fell, vier Beinen mit Krallentatzen und Reißzähnen im Maul. Sie brüllt, brüllt und stinkt, wendet den Kopf, setzt an zum Sprung, die kräftigen Hinterläufte spannen sich an, der Schwanz fegt einen Augenblick über das Kopfsteinpflaster.
Eike schlägt der Länge nach hin unter ihrer Wucht, sie brüllt, reißt stumm noch einmal das Maul auf, die Beute immer zuerst in den Hals, die Schlagader aufreißen, Blutverlust, Opfer wehrlos. Eikes Halswirbelsäule knirscht, Bea beißt und reißt, ihr Rachen ist größer als sein Kopf. Eike hat noch geschrieen, irgendwann zuvor. Blut. Soviel Blut überall.

Nach 20 Minuten setzt die Blaskapelle ein.

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